Meine Tallinner Kolleginnen Merle, Kristina, Tiina und Kristel geben mir die große Tour durch das historische Gebäude der TCL. Verschachtelte Treppen, Gänge, Keller. Im hochherrschaftlichen, ehemaligen Ballsaal beleuchten „goldene“ Kronleuchter die Bücherregale. Nur einer ist historisch echt – ich solle nach dem „Made in China“-Etikett Ausschau halten, meint Kristel schmunzelnd.
Ausstellungsräume, Konferenzsaal, Video-/Gamingstudio, PC-Labor, Lesesaal – also viel Platz für Veranstaltungen, Diskussionen, zum Musizieren und zum Lernen. Ein paar ältere Herrschaften lesen in Ruhe Zeitung – Kinder finden Platz zum Spielen.
Veranstaltungsraum der TCLEhemaliger Ballsaal – heute Bibliothek
Im Video-/Gaming-Studio können Nutzer*innen XBox-Spiele spielen und Videos ansehen – aus dem Bestand der Bücherei und private. Zusätzlich können hier alte Videokassetten und Schallplatten digitalisiert werden. Regelmäßig finden Doku-Film-Nächte statt mit anschließenden Diskussionsrunden.
Kristel Palk sagt in Estnisch: Herzlich Willkommen in Tallinn
Zeitverschiebung, sehr früh, hoch im Norden, dunkel und kalt.
In der Tallinn Central Library (TCL) begrüßen uns herzlich die Direktorin der Büchereien, Kaie Holm, und die Direktorin für den Kundenservice, Kristi Veeber. Unsere zentralen Themen: Personalauswahl und Soziale Netzwerke.
Das Personal, es fällt sofort auf, es kommt aus vielen verschiedenen Berufsgruppen. So arbeiten in den Büchereien neben Bibliothekar*innen auch Anthropologinnen wie Kristel, Literaturwissenschaftler*innen oder Soziolog*innen. Die Direktorin horcht bei den Vorstellungsgesprächen ganz genau hin, welche außerberuflichen Fähigkeiten die Bewerber*innen mitbringen. So können einige singen, schreiben oder spielen Instrumente, sind künstlerisch talentiert, technikaffin, können nähen oder beherrschen mehrere Fremdsprachen. Jede der Mitarbeiterinnen, die ich heute treffe, trägt ein Namensschild mit kleinen Flaggen. Diese symbolisieren die Sprachen, die sie spricht. Es ist ausdrücklich erwünscht, seine persönlichen Talente in die Arbeit einzubringen. Zahlreiche dieser Talente werden in Einführungskursen an die Kund*innen vermittelt: Computer-Kurse, Nähen, Kreatives Schreiben, …
Nicht-Bibliothekar*innen erhalten die Möglichkeit, eine einjährige Ausbildung an der Nationbibliothek Tallinn zu durchlaufen. Diese Weiterbildung ist jedoch freiwillig. Nach Kaie Holm ist es leichter: „To teach people to be a librarian than the other way around.“ Keine falschen Schlussfolgerungen! Bibliothekar*innen bleiben für Büchereien unentbehrlich. Tallinns Büchereien begegnen jedoch dem wachsenden Aufgabenspektrum moderner Büchereien durch Personalvielfalt.
Social Media in Bibliotheken – Gefällt mir!
Die Tallinner Büchereien bespielen verschiedene Social-Media-Kanäle durch ihr eigenes Personal. Die 17 Stadtteilbüchereien teilen sich fünf FB-Accounts, vereint nach ihrer Lage in der Stadt. Das stärkt die Zusammenarbeit, minimiert den Informationsverlust und die Posts bleiben authentisch. Eine zentrale Ansprechpartnerin hilft bei Fragen und Problemen weiter, die aber durch die lange Erfahrung kaum noch auftreten. Neben Facebook und Instagram unterhalten sie jeweils einen Blog für Erwachsene und Kinder und erstellen Videos für ihren Youtube-Kanal. Die Verantwortlichen erhalten zu Beginn Schulungen, der Rest ist Übungssache. Kristi Veeber: „Practise is the key.“
Daran nehme ich mir ein Beispiel: Das erste Mal arbeiten mit WordPress 😉 Am Ende funktioniert das dann in der Regel sehr gut, so Kaie Holm.
Mitarbeiterzufriedenheit, Arbeitsklima, Teambildung – das sind auch in unserem Haus heiß diskutierte Themen. In der Vergangenheit stellte die LHK-Mitarbeiter-Party im Kulturforum eine gute Gelegenheit dar, um sich mit Kolleg*innen in entspannter Atmosphäre zu treffen, auszutauschen und miteinander zu feiern. Nachdem diese lange nicht mehr stattgefunden hat, begann ein kleines Team damit, ein- bis zweimal im Jahr eine kleine Stadtbücherei-Team-Party zu organisieren. Aus Bibliotheksassistenten und Bibliothekaren werden an diesen Abenden DJs, Caterer, Beleuchter, Dekorateure oder einfach zufriedene Gäste. (*innen) Und Kristel ließ sich an ihrem letzten Abend nicht nehmen, zu beweisen: Esten können nicht nur singen (Laulupidu), sondern auch tanzen. 😉
Weil die Zentralbibliothek für Wirtschaftswissenschaften (ZBW) so „radikal modern“ ist, wurde sie 2014 vom Deutschen Bibliotheksverband als Bibliothek des Jahres ausgezeichnet. Wir wollten wissen, was dahintersteckt. Drei gutgelaunte Mitarbeiterinnen nahmen sich Zeit, um uns einen knappen Überblick zum Datenmanagement – sehr zur Freude von Judith 😉 – und den Serviceangeboten vor Ort zu geben.
Der Ausblick aus den Arbeitssälen der ZBW ist unschlagbar. Praktisch, dass zwischen Sälen unterschieden wird, in denen telefoniert werden darf und Sälen, in denen alle in Ruhe arbeiten. Ein Gruppenarbeitsraum stellt einen großen Bildschirm zur Verfügung, an den Tablets oder Laptops angeschlossen werden können. Und wer weiß, dass er länger an seiner Hausarbeit arbeiten wird, mietet kostenlos einen der Arbeitswagen und schließt seine Unterlagen dort ein.
In der Arbeitspause lümmeln die Lernenden in grellgrünen Sesseln in der Lounge. Wer sein Tablet zuhause liegen ließ, kann sich eines mit seiner Lesekarte aus der IPad-Station leihen.
IPad-Ausleihstation
Wir sind der Antwort auf die eingehende Frage an dem Tag eindeutig ein Stück näher gekommen.
Wir hatten das Glück, dass uns Gärtner Dirk eine sehr persönliche Führung durch „seinen“ Alten Botanischen Garten schenkte. Mit sehr viel Fachwissen und Liebe zeigte er uns wundervolle Pflanzen und Gebäude des alten Gartens. So gedeiht hier einer der höchsten Ginkobäume in Schleswig-Holstein und einer der ältesten Urweltmammutbäume auf dem europäischen Festland. Ein verwunschenes Fachwerk-Gerätehäuschen wird vom unglaublichen Wachstum eines anderen Mammutbaumes allmählich zerdrückt, hier treffen Umwelt- und Denkmalschutz aufeinander und noch weiß keiner, wie es ausgeht. Mit Sorgen wird hier das Wirken des Klimawandels registriert, erste Nadelbäume sterben und die Palmen können bereits im Freien überwintern. Ein Picknick im Pavillon bildete den perfekten Abschluss der Tour.
Am 10. September berichtete Kristel in der Zentralbücherei im Neuen Rathaus, wie sie regelmäßig gemeinsam mit ihren Teilnehmer*innen im Skype-Book-Club mittels Literatur Grenzen überwindet und Vorurteile abbaut. Die Idee ist simpel: Gruppen aus verschiedenen Ländern interpretieren jeweils denselben Text. Der Austausch findet via Skype statt, dabei kann die Bedeutung auch künstlerisch wiedergegeben werden, z.B. als Video, Pantomime, Plakate, u.a.
Der Stadtpräsident eröffnete gewohnt charmant den Vortrag und machte allen Beteiligten Mut, neue Wege zu erproben.
Bisher konnte ich den Stadtpräsidenten einzig von der Zuschauertribüne während der Ratsversammlungen erleben. An diesem Tag hatte ich gleich zweimal das Vergnügen. Für ein Mittagessen in den „Schönen Aussichten“ mit entsprechendem Blick auf die Kieler Förde und schleswig-holsteinischer Küche nahm er sich Zeit, um mit uns u.a. über die Bedeutung Öffentlicher Bibliotheken und das Liederfest Laulupidu zu sprechen, welches dieses Jahr sein 150. Jubiläum feierte und viele tausende Esten singend vereint. Da er auch als Anwalt in Scheidungsangelegenheiten tätig ist, wollte ich wissen, welches seiner Erfahrung nach der häufigste Scheidungsgrund ist. Es sind weniger die großen Dramen, häufig haben Paare sich schlicht auseinander gelebt!
Kristel Palk: „Literature can indeed help save the world because just like with books – you cannot judge a fellow human without knowing their story.“
Kaffeepause im Café Resonanz nach einem frühen Start
Während mein erster Gedanke noch in die Richtung zielte, dass ich selbst bald nach Tallinn reisen und neue Büchereien, Kolleg*innen und Arbeitsweisen kennenlernen werde, merkte ich bald, dass es ebenfalls großen Spaß bringt, in Kiel die Gastgeberin zu sein. Lerneffekt inklusive. Kristel besuchte uns vom 8. bis 14. September. Hier folgen einige Eindrücke.
In einer englischsprachigen Stadttour entdeckte Kristel gemeinsam mit meinen Kolleginnen aus der Stadtbücherei, Judith und Steffi, Kiels Geschichte, Sehenswürdigkeiten wie das Rathaus und Bauprojekte wie den Kiel-Kanal.
Regelmäßig gehe ich den Weg zwischen Neuem und Alten Rathaus, doch die kleine Gedenktafel am Rande des ehemaligen Gängeviertels (heute Sparkassen-Arena und Europaplatz) war mir bisher nicht ins Auge gefallen. In den 1920er Jahren lebten dort in engen Straßen mit Namen wie „Bierträgergang“ oder „Schlachtergang“ mehr als 600 Menschen jüdischen Glaubens, von denen fast alle dem Nationalsozialismus zum Opfer fielen.
Im Arbeitsalltag fehlt mir bisweilen Zeit und Ruhe, für neue Herausforderungen nach frischen Lösungen zu suchen. Im alten Trott weitermachen stellt für mich jedoch auch keine Option dar. Jeden Tag zuverlässig dasselbe tun, das verlange ich höchstens von meiner Uhr. 😉
Ein guter Impulsgeber sind mir darum Erfolgsmodelle anderer Öffentlicher Bibliotheken. Dies ist einer der Gründe, warum ich mich im Rahmen von PIK (Perspektiven in Kiel) für einen Fachaustausch mit einer Öffentlichen Bibliothek in einer unserer Partnerstädte beworben hatte. Der Grund, warum ich mich für die Tallinn Central Library entschieden habe, ist meine Mom: „Wenn ich fahren dürfte, ich wählte Tallinn, dort ist’s modern.“ Für sie ist dieser Blog … und natürlich für euch.
So
ein Fachaustausch startet weit früher, als ich ahnen wollte. Sieben
Monate bevor meine Tallinner Kollegin, Kristel Palk, ihren Fuß an
die Kieler Förde setzte, lernten wir uns und unsere Arbeit in regem
Mailverkehr kennen. Danach begannen die Planungen für Kristels
Aufenthalt in Kiel – gemeinsam mit meinen Kolleg*innen und der
unermüdlichen Franziska Rimmele aus dem Büro des Stadtpräsidenten.
Zu Beginn war es ungewohnt, in Englisch zu kommunizieren und die
ersten Mails dauerten noch Stunden.
Als
Beitrag zur Digitalen Woche Kiel baten wir Kristel, uns über den
Skype-Book-Club zu berichten – ein interkulturelles und zugleich
digitales Projekt der Tallinn Central Library.