Hier ist alles freiwillig

In der Tallinn City Library engagieren sich zahlreiche Freiwillige. Die erste Frage, die den Bewerber*innen gestellt wird, ist: „Was willst du wirklich gern tun?“ Nicht alle wollen Bücher einstellen oder den Bücherflohmarkt unterstützen.

Viele der Freiwilligen pflegen Hobbies und möchten das eigene Wissen weitergeben. Sie organisieren zum Beispiel Workshops oder Ausstellungen. Sigrid aus der Stadtteilbücherei Sõle erklärt das Nähstudio. Zwei Freiwillige bieten Nähkurse an und wer eine Büchereikarte hat, darf – nach einer Einführung – die Nähmaschinen auch außerhalb der Kurse nutzen.

Freiwillige unter 18 Jahren stellen Bücher ein, helfen bei der Gestaltung der Kinderbücherei, spielen mit den kleineren Gästen Leselernspiele oder betreuen das Gemeinschaftspuzzle. Sie erhalten – bei Interesse – ein kleines Regal, das sie mit ihren Medienempfehlungen bestücken. „In diesem Monat empfiehlt Lars…“

Ein Großteil der Kommunikation erfolgt in Facebook-Gruppen. „Wer kann nächste Woche beim Stadtteilfest am Basteltisch aushelfen?“ Antworten und Hilfsangebote folgen zeitnah.

Was im Ehrenamt in der TCL nicht gemacht wird: Ehrenamtliche sind weder in der Ausleihe noch in der Auskunft im Dienst und sie erhalten keinen Zugang zu Kundendaten. Stattdessen bereichern sie die Bücherei mit ihren spezifischen Fähigkeiten.

Ohne Moos nichts los.

Woher kommt das Geld?

Die Antwort ist komplex. Die endgültige Fassung des Nationalgesetzes über Öffentliche Bibliotheken ist seit 2007 in Kraft. Laut diesem Gesetz sind die Öffentlichen Büchereien für Kommunen eine Pflichtaufgabe. Damit werden sie nicht allein gelassen. Das Kulturministerium unterstützt bei der Büchererwerbung, der Schaffung und Instandhaltung von Internetanbindungen sowie dem Bau und der Renovierung von Bibliotheksgebäuden.
Übrigens: Leseausweise sind kostenlos.

Gute Büchereien gibt es nicht umsonst © Collage: Karl August Hindrey „Piripilli-Liisu“ (1929); Estonian Children’s Literature Centre

Um Angebote zu realisieren, die über eine Grundversorgung von Bibliotheken hinausgehen, werden Mitarbeiter*innen dazu angeregt und dabei unterstützt, Fördermittel und Sponsoren einzuwerben. „Writing a project“ ist in der Tallinn Central Library ein geflügeltes Wort. Sie konkurrieren dabei mit anderen Organisationen und Vereinen um Fördermittel des Erasmus+ und Nordplus-Programms, vom estnischen Kulturministerium, der Integration Foundation und dem Cultural Endowment of Estonia.

Zusammenarbeit ist ein weiteres Erfolgsrezept – in kleinen und großen Projekten. Beispiel: Theater überlassen den Büchereien Freikarten und dürfen dafür in den Büchereien für das aktuelle Programm werben. Diese Theaterkarten gehen als Anerkennung an Leser*innen, die sich an verschiedenen Bücherei-Aktivitäten beteiligt haben.

Pep Talk in der Estnischen Nationalbibliothek

Eine niederländische Delegation und ich folgen unserem Lotsen Margus Leimann durch ein Schlachtschiff von Haus. Er kennt es von klein auf – auch seine Mutter arbeitet hier. Damals waren Kinder nicht erwünscht, inzwischen existiert ein Kinderbereich.

Margus führt durch die Ausstellung zum Sängerfest Laulupidu

Die Hauptaufgabe heißt nicht mehr Sammeln von Literatur. Margus begründet das salopp: Das Sammeln von Büchern ist kein Spaß, das Teilen ist es. In anderen Büchereien gehen die Zahlen runter, nicht in der Nationalbibliothek.

Sie sind bereits einen weiten Weg gekommen von der misstrauischen Bücherei, die ihre Bücher gar nicht erst aus der Hand geben will bis zum heutigen Kultur- und Lernzentrum. Als Vorbild nennt Margus Helsinkis Zentralbibliothek „Oodi“. Was die Nutzer*innen wollen und brauchen – das ist, was zählt. Also reagieren sie auf Feedback und veranstalten offene Diskussionsrunden. Zusätzlich zu den modernen und gemütlichen Lesesälen sind Co-Working-Arbeitsräume und Makerspaces in Planung.

Treppenhaus

Die Menschen brauchen nicht-kommerzielle Orte, aber sie müssen von ihnen auch wissen. Deshalb nimmt die Bücherei an öffentlichen Veranstaltungen wie der Museumsnacht teil. Eine Pop-up Bücherei besucht Konferenzen, Festivals, Messen, Schulen und Universitäten.

Medienraum mit Lesesaal

Verbotsschilder sind out – hier prägen „Erlaubt ist“-Schilder die Säle. Und wer den Kopf voll hat, der folgt einfach für einige Minuten dem Sport-Parcour durch die Gänge.

Bevor Margus sich verabschiedet, weist er im Eingangsbereich auf ein Selbstverbuchungsgerät mit RFID-Technologie hin. Es ist das erste derartige Gerät, das ich auf meinen Touren durch Tallinns Büchereien entdecke.

Gastbeitrag von Arne Eichberg: Street Art in Tallinn/Turku

Ich begleite den Besuch in Tallinn auf der Suche nach urbaner Jugendkultur. Für den Kieler Jugendring organisiere ich Austauschprojekte mit unseren Partnerstädten, dieses Jahr haben Gäste aus Brest, Coventry und San Francisco die Kieler Woche musikalisch und künstlerisch bereichert.

In Tallinn suche ich nach Kooperationspartnern in Sachen Street Art. Grafitti konzentriert sich hier in der Telliskivi Creative City und auf dem Cultural Kilometer .

Viele beeindruckende Werke sind beim Stencibility Festival entstanden und ich treffe Sirla, das Herz und Hirn hinter diesem Projekt.

Sirla Cool, the Original Glitter Princess

Sirla zeigt mir die Open Air Galerien, die während der inzwischen 10 Jahre Stencibility entstanden sind und erzählt von ihren diversen Projekten: Dem Sprayrobot, der computergesteuert Jpegs in beliebiger Größe auf Wände druckt, die mobile Stickergalerie in Form eines Wohnmobils, Ausstellungen in New York und San Francisco und vieles mehr.

Wir trinken Kaffee in einem schrägen Kulturzentrum, die Ideen fliegen hin und her wie Ping-Pong-Bälle und mit Sicherheit dürfen wir Sirla bald einmal in Kiel erleben.

Gemeinsam wachsen

Die Stadtteilbücherei Laagna liegt im Nordosten Tallinns, im Stadtteil Lasnamäe, der mit mehr als 108.000 Einwohnern auch der bevölkerungsreichste Stadteil ist. Zur Zeit der russischen Besatzung entstand hier eine riesige Plattenbausiedlung. Der größere Teil der Bevölkerung ist russischsprachig (ca. 70%).

„Zusammenarbeit“ gehört zu den am häufigsten verwendeten Begriffen auf meiner Tour durch die Bibliotheken. In der Stadtteilbücherei Laagna finde ich ein herausragendes Beispiel. Polina von der NGO Lasna!dee stellt mir die vor zwei Jahren in Kooperation mit der Bücherei geborene Idee des Gemeinschaftsgartens vor.

Lasna!idee ist in Dingen Nachbarschaft aktiv, egal ob es um Open-Air-Kino, Street-Art oder diesen Gemeinschaftsgarten geht, zu dem es zunächst noch Vorbehalte gab: Werden die freiwilligen Gärtner sich regelmäßig um ihre Beete kümmern? Wird es Vandalismus geben?

Die Sorgen waren unberechtigt. Das Projekt stärkte den Zusammenhalt der Stadtteilbewohner*innen und es entstehen immer neue Ideen der Nutzung von Bücherei und Garten. Inzwischen werden 55 Beete von 150 Gärtner*innen jeglichen Alters versorgt, darunter auch Schulklassen. Im Sommer nutzen die Bücherei und andere Einrichtungen den Garten für Aktivitäten wie Lesungen, Yoga oder kreatives Arbeiten. Nächstes Jahr bietet die Bücherei neben Büchern und anderen Medien auch Samen an. Diese müssen dann nicht zurückgegeben werden. 🙂

Wo der Nukitsamees wohnt!

Das Estnische Zentrum für Kinderliteratur liegt inmitten der berühmten Old Town Tallinns. Wer Kinderbücher und Kinderbuchillustrationen liebt, kommt hier aus dem Schwärmen nicht heraus.

„Der gehörnte Junge“ (=Nukitsamees) ist eine 1920 veröffentlichte Kindergeschichte von Oskar Luts. Er ist das Maskottchen des Hauses. Unserem gehörnten Schlurf aus der Jugendbücherei gefällt das. 🙂

Einer der Veranstaltungsräume im Kinderliteraturhaus

Helena Koch studierte in Berlin und führt uns in fließendem Deutsch durch das Kulturzentrum.

Ein Ausleihbestand lädt zum Stöbern ein, eine Sammlung archiviert Veröffentlichungen aus Estland bzw. Veröffentlichungen in estnischer Sprache. Ein Museum zeigt die Geschichte der Kinderliteratur, Bilderbücher und originale Illustrationen estnischer Künstler*innen, ganze Räume wurden im Stil einzelner Illustrator*innen gestaltet. In dieser märchenhaften Umgebung lesen Autor*innen und Künstler*innen und veranstalten Workshops zum Kreativen Schreiben oder bieten Kunstkurse an.

Passend zu jeweils aktuellen Themen finden Veranstaltungen für Schulklassen statt. Im „Alice im Wunderland“-Jahr amüsierten sich die Schüler*innen mit verrückte Mützen während einer Teeparty. Dabei wurde gelesen und diskutiert.

Ähnelt einem Thronsaal – einer der Veranstaltungsräume
Kinderbuchausstellung – die Hocker wurden von bekannten Illustrator*innen gestaltet
Märchenwelt unterm Dach
Kleines Puppentheater
Regale mal nicht im Blocksatz 🙂

An dieser Tafel wird regelmäßig über das beliebteste Buch abgestimmt.

Die meisten Einrichtungen auf meinem Weg bitten auf die eine oder andere Art um die Meinung ihrer Nutzer*innen.

„Huvitav“ heißt z.B. „interessant“ und „jube“ meint „schrecklich“.

Improvisieren als Konzept

Kirsti ist Leiterin der Stadtteilbücherei Kännukuke. Das Gebäude zeigt sich unscheinbar von außen – ein grauer, zweistöckiger Kasten. Im Inneren jedoch wird gelesen, gespielt, gelernt und experimentiert. Kirsti ist verspielt – das hat sie zum Prinzip erhoben.

Der Veranstaltungsraum der Bücherei wird zu verschiedenen Anlässen vermietet. Wie alle Tallinner Büchereien nehmen sie Geld nur für private oder Firmenveranstaltungen und investieren dieses in Neuanschaffungen wie 3D-Drucker oder Möbel. Kostenlose Workshops wie Sprachcafés oder Hobbykurse bleiben von Gebühren befreit.

Improvisation ist hier eine Tugend. Derzeit räumt das Team ein ehemaliges Magazin leer, um ein Fotostudio einzurichten. Diese Umgestaltung von „toten Räumen“, wie man es hier nennt, wird mir auf dem Weg durch die Büchereien noch häufig begegnen. Nächste geplante Anschaffung: ein GreenScreen.

Scratch-Workshop im Innovationslab

Im Innovationslab folgen zehn Kinder konzentriert den Anweisungen einer Mitarbeiterin auf dem Monitor. Sie lernen programmieren mit Hilfe der grafischen Programmiersprache Scratch. Hinter ihnen stehen aufgereiht 3D-Drucker, eine Graviermaschine, Strawbees-Roboter-Sets, eine Transferpresse zum Bedrucken von Textilien und mehr.

Jeder darf die Geräte kostenlos und jederzeit für seine Projekte benutzen. Bezahlt wird einzig für das Material. Voraussetzung sind ein Büchereiausweis und eine kurze Einführung. Diese Qualifikation ist im Benutzerkonto vermerkt.

Jugendecke mit Gaming-Studio

Im Jugendbereich stehen Kicker, Gaming-PCs, Brettspiele und Sofas. Glaswände sorgen für ungestörten Spielespaß im Gaming-Studio.

Kristi erzählt mir, dass sowohl Kinder als auch Teenager die aus einem Laptop, einer Registrierkasse und einem Telefon bestehende Ausleihstation lieben. Obwohl keines der Geräte einwandfrei funktioniert. 🙂

Schon mal Lego-Lotto gespielt? Ein Thema wird vorgegeben (z.B. Halloween) und dann zieht jeder blind Steine aus einem Sack. Fantasie kennt eben wirklich keine Grenzen – das beweist eindrucksvoll die daraus entstandene Ausstellung.

Vom Horror des Quengelregals

Nach dem klassizistischen Gebäude der Zentralbücherei der TCL erlebe ich in der Stadtteilbücherei Nurmenuku das architektonische Kontrastprogramm. Das Gebäude ist modern, offen und klar strukturiert. Am Chlorgeruch der Schwimmhalle in der ersten Etage vorbei finde ich in der obersten Etage die Bücherei.

Der Leiterin Gerli ist die Begeisterung für ihre Arbeit deutlich anzumerken. Gerli gewann als Kind ihren ersten Schreibwettbewerb und schreibt nun zu Halloween gemeinsam mit Kindern Horrorgeschichten. Bevor die Kinder den Stift in die Hand nehmen, erarbeiten sie zusammen mit Gerli die Merkmale gruseliger Literatur.

Am Verbuchungstresen verführt ein „Quengelregal“ die kleinen Besucher zum Konsum, aber nicht etwa mit Schokolade, sondern mit Büchern. Die Eltern fragt es: Haben sie auch etwas für ihr Kind dabei?“

Mein …

Zuletzt empfiehlt Gerli mir die Buchreihe Mein , in der estnische Auswander*innen von ihren Erfahrungen im Ausland schreiben – authentisch und bei den Leser*innen sehr populär.

Ave Ungro, zum Beispiel, arbeitete zweieinhalb Jahre in Kolumbien als Dolmetscherin und Projektmanagerin. Sie erzählt von der Hassliebe zum Land, von Kolumbiens Kokainproblem und einer häufig gebrauchten Wendung: „Wenn du nicht in Stimmung bist, dann wechsle den Händler.“ Ein Teil der Erlöse der Buchreihe geht an Stiftungen, die sich in den jeweiligen Ländern engagieren.

Tohuvabohu für Erstklässler

Die Bücher für die Erstklässler sind da! Gerli und Kristel in der Stadtteilbücherei Nurmenuku

Als Willkommensgeschenk für die Erstklässler der Tallinner Schulen veröffentlicht die TCL seit 13 Jahren jährlich ein eigenes Kinderbuch. Direktorin Kaie Holm begibt sich dafür auf die Suche nach lokalen Autor*innen und Illustrator*innen. Zu Beginn war Überzeugungsarbeit gefragt – bei den Künstler*innen wie bei den Schulen. Inzwischen ist das Projekt ein Selbstläufer. Und nach Aussage der örtlichen Kolleginnen werden mit diesem Projekt (fast) alle Erstklässler erreicht.

Die Buchvorstellung ist jedes Jahr ein großes Event. Danach strömen die Schulklassen in die Büchereien, wo die Kinder nach einer Einführungstour bald ihr eigenes Exemplar in den Händen halten. Die Büchereien freuen sich jeden Herbst auf die Lieferung. Ganz frisch in diesem Jahr: Tohuvabohu

Ausgaben vergangener Jahre

Eines der herausgegebenen Bücher erhielt mehrere Preise und wurde ins Englische übersetzt: Everyone’s the smartest
Und etwa alle fünf Jahre stellen Kinder die Text- und Bildbeiträge. Darauf sind alle Beteiligten mächtig stolz. Jeweils ein Exemplar darf ich mit nach Kiel nehmen.